Die extreme Rechte an den Hochschulen und der Fall Mario Matthes in Mainz
Im Januar 2009 erreichte eine mittlerweile fast drei Jahre andauernde Auseinandersetzung um den Neonazi-Kader Mario Matthes an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ihren vorläufigen Höhepunkt: Matthes, der zuvor vom Amtsgericht Mainz wegen eines Angriffs auf einen Kommilitonen auf dem Campus der Mainzer Uni zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, wurde – vorübergehend – exmatrikuliert. Der Fall, dem große mediale Aufmerksamkeit bis hin zu SPIEGEL ONLINE und BILD zuteil wurde, wirft ein Schlaglicht auf ein Thema, das bislang wenig Beachtung fand und wenn, dann fast ausschließlich in der Auseinandersetzung mit studentischen Korporationen und Burschenschaften: Die extreme Rechte an den Hochschulen.
Hochschulen – linke Hochburgen?
Ein Blick zurück: Über mehrere Jahrzehnte hinweg galten Hochschulen als linke Hochburgen. Gerade die studentischen Vertretungsstrukturen wie Studierendenparlamente und Allgemeine Studierendenausschüsse (ASten) wurden als Produkte der Studierendenrevolte Ende der 1960er Jahre gehandelt oder zumindest als ein Re-Education-Projekt. Tatsächlich gab es verfasste Studierendenschaften aber schon in den 1920er Jahren. Und Organisationen mit dem Namen ›Allgemeine Studentenausschüsse‹, die auch Studierende vertreten wollten, die keiner studentischen Verbindung angehörten, sogar schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.
Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass die studentischen Vertretungen in der Weimarer Republik teilweise völkische, mindestens aber nationalistische Vereinigungen waren. In Preußen wurden die anerkannten ASten 1927 sogar von Staats wegen aufgelöst, weil die antisemitische Hetze, die von ihnen ausging, zu heftig wurde. Die studentischen Verbindungen waren hier maßgeblich ideologiebildend. Am Ende der Weimarer Republik gewann der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund an Bedeutung und übernahm 1931 quasi den Dachverband Deutsche Studentenschaft (DSt). Studentenbewegung sah im Jahr 1933 so aus, dass die DSt aus eigener Initiative Bücherverbrennungen organisierte und sich an der Vertreibung jüdischer, kommunistischer, sozialdemokratischer und liberaler ProfessorInnen beteiligte.
Erst in den 1960ern und mit der sogenannten Bildungsexpansion brach die auch in der neu gegründeten Bundesrepublik unter den Studierenden weiterhin verbreitete reaktionäre und elitäre Haltung auf und linke Gruppen übernahmen die ASten. Diese Entwicklung mündete schließlich in der sozialen Revolte, die heute mit dem Schlagwort ›1968‹ belegt wird.
(Extrem) Rechte Tendenzen unter Studierenden
Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, dass seitdem eine linke Hegemonie an den Hochschulen herrscht: Die seit den 1960ern und teilweise bis heute festzustellende linke Vorherrschaft in den Vertretungsstrukturen lässt keinen Schluss darauf zu, dass es eine wie auch immer geartete linke Mehrheit unter den Studierenden gab oder gibt. Denn schon immer gab es einen großen Teil der Studierenden, der sein Wahlrecht an der Universität schlicht nicht wahrnahm. Mehr Auskunft über die politische Ausrichtung von Studierenden geben daher zum Beispiel die Ergebnisse der Studie des Soziologen Alex Demirović von 1996: Von den befragten hessischen Studierenden wiesen, so Demirović, 14 Prozent eine »deutliche fremdenfeindliche oder kulturrassistische Tendenz« auf. Und das 2008 veröffentlichte und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebene Studierendensurvey, das den »Wandel politischer Orientierungen und gesellschaftlicher Werte« der Studierenden von 1983 bis 2007 untersucht, stellt deutliche Steigerungen der Zustimmungswerte bei der Forderung nach einer »Begrenzung von Ausländern« (2007: 25 Prozent) und bei der Frage, ob die Befragten Angst vor »kultureller Überfremdung« hätten (2007: 17 Prozent), fest. Hochschulen sind also keine Inseln des antirassistischen und antifaschistischen Glücks. Warum auch – das Problem des Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus ist ein gesamtgesellschaftliches – und wirkt sich dementsprechend auch an den Hochschulen aus.
Dass es immer wieder extrem rechte Organisierungsversuche an den Hochschulen gibt und extrem rechte Personen an den Hochschulen aktiv sind, überrascht daher genauso wenig. So herrschte bis in die 1990er Jahre hinein eine fast ununterbrochene Tradition neonazistischer und extrem rechter Organisierung an den Hochschulen, die nicht gleichzusetzen ist mit einer politischen Organisierung von Burschenschaften. So waren an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz etwa in den 1950ern die lokalen Gliederungen des Bundes Nationaler Studenten, in den 1960ern und 1970ern die des Nationaldemokratischen Hochschulbundes, in den 1980ern der Ring Freiheitlicher Studenten und in den 1990ern schließlich der Republikanische Hochschulverband aktiv.
Extrem rechte Gruppen und Kader an den Hochschulen
Heute dagegen ist es eher die Anwesenheit einzelner neonazistischer Kader an der Hochschule, die BeobachterInnen hellhörig werden lässt, und zwar zum Beispiel an der Uni Mainz.
Aufschlussreich, was den Umgang mit Neonazis an Hochschulen betrifft, ist der Fall Mario Matthes. Matthes, 1985 geboren, begann 2005 ein Studium an der Mainzer Uni. AntifaschistInnen outeten ihn bald mit Plakaten, auf denen seine bisherige Karriere unter anderem in der neonazistischen Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft (BDVG) [1] beschrieben wurde. Daraufhin zog er sich zurück, startete aber kurz darauf einen neuen Versuch und schrieb sich erneut an der Uni Mainz in den Fächern Geschichte und Philosophie ein. Matthes selbst trat auf dem Campus nur selten politisch offensiv in Erscheinung. Ausnahme war der Angriff von Neonazis auf eine Veranstaltung des AStA im November 2006, an dem Matthes beteiligt war. Der AStA hatte an der Uni eine Veranstaltung mit dem Historiker Hannes Heer organisiert, der wegen seiner Tätigkeit als Kurator der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1945 eine Hassfigur in der extremen Rechten ist. Etwa 20 Neonazis versuchten, gewaltsam in das Universitätsgebäude einzudringen und lösten einen Großeinsatz der Polizei aus. Das offensive Auftreten der Neonazis kam wenig überraschend. Schon seit geraumer Zeit wurden auf dem Unigelände Plakate mit eindeutig antisemitischem Inhalt verklebt.
Mario Matthes war nicht der einzige bekannte Neonazi an der Mainzer Universität. So studierte bis vor wenigen Jahren der Neonazi Reinhard Hufnagel am Historischen Seminar. Er war zu dieser Zeit ein exponierter Vertreter der neonazistischen Kameradschaft Worms, trat mit deren T-Shirt als Ordner auf Aufmärschen in Erscheinung. Obwohl er an der Universität keine nennenswerten politischen Aktivitäten entwickelte, ist sein Fall dennoch bemerkenswert, als dass einem Neonazi die Gelegenheit gegeben wurde, ausgerechnet zur Geschichte des Nationalsozialismus seine Magisterarbeit zu schreiben (»Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg«). Heute kann Hufnagel, der unter anderem als Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion Mecklenburg-Vorpommern tätig war, in der NS-Szene als ›Historiker‹ reüssieren, um dort zum Beispiel seine ›Expertise‹ zum Prozess gegen den Holocaust-Leugner Ernst Zündel abzugeben.
Brückenfunktion und Rekrutierungsfeld
Von besonderer Bedeutung ist die Brückenfunktion, die Matthes an der Uni einnimmt. Als regional bekannter Neonazi-Aktivist könnte er als Vorreiter wirken und andere Neonazis, die sich vor einem Studium scheuen, mit sich ziehen. So studiert jetzt auch seit einigen Semestern der Neonazi-Aktivist Sascha Söder aus Flörsheim (Main-Taunus-Kreis) an der Mainzer Uni, der der NPD-›Kaderorganisation‹ Revolutionärer Block zugehörig war.
Der Philosophie-Student Söder wurde bekannt, als er im Oktober 2008 als Redner auf einem Aufmarsch in Wetzlar (Thema: »Todesstrafe für Kinderschänder«) den grünen Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit in Anspielung auf dessen jüdische Herkunft als »Mitglied, naja, einer ganz besonderen Minderheit« benannte, ihm den Vorwurf machte, Pädophile verteidigt zu haben, und schlussendlich forderte: »Und genau solche Leute gehören an die Wand gestellt.« Wenige Wochen später veröffentlichten AntifaschistInnen ein Video, in dem Söder sich wie folgt äußerte: »Zum Schluss dann noch ein paar Worte: Ceterum Censeo, Israel sollte weg gebombt werden.« [2] In einer zweiten Videosequenz äußerte er den Wunsch: »Können wir nicht einfach alle Juden human erschießen?« Die Aussage wurde auf einer Feier getroffen, die am Tisch Sitzenden quittierten sie lächelnd: der Bad Nauheimer Björn Einig, der den Ordnungsdienst der hessischen NPD leitet und als Beruf ›Student‹ angibt, die angehende Sozialpädagogik-Studentin Annika Ringmayer, letzte ›Einheits-Führerin‹ in Hessen der im März 2009 verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ), und ihr Lebensgefährte, der in Mainz studierende Felix Vymazal.
Vymazal war kurze Zeit nach Matthes’ Einschreibung als neues Gesicht in der regionalen Neonazi-Szene aufgetaucht. Er studierte in Mainz Philosophie. Vymazal ist ein Beispiel dafür, dass Hochschulen seitens der extremen Rechten auch als Rekrutierungsfeld für neue AktivistInnen genutzt werden. Ganz offensichtlich band er sich unter dem Einfluss von Matthes immer stärker in die Neonaziszene ein. 2006 trat er bereits als Redner auf neonazistischen Aufmärschen in Erscheinung.
Noch sind solche direkten Rekrutierungen an den Universitäten in der Regel mit mäßigem Erfolg gekrönt, ein Grund, weshalb es in den Neonazi-Szenen an gut ausgebildeten Kadern fehlt. Deshalb sind Universitäten als Rekrutierungsgebiet seit einiger Zeit verstärkt ins Blickfeld gerutscht – in diesem Zusammenhang sind auch die Neugründungen von ›intellektuellen‹ Zirkeln im Umfeld der NPD zu sehen, die sich Dresdener Schule oder Nationaler Bildungskreis nennen.
Antifaschistische Gegenstrategien
Auch bei Matthes’ zweiter Einschreibung blieben AntifaschistInnen nicht untätig. Erneut war ›Outing‹ das Mittel. Mehrfach wurde Matthes mit Flyern und Aufklebern seinen KommilitonInnen vorgestellt. Dabei ging es, so eine der beteiligten AntifaschistInnen, darum, »den Mitstudierenden zu erklären, wer sich hinter der biederen Fassade verbirgt«. Obwohl es den AntifaschistInnen um Aufklärung ging, rief die Methode des Outings auch Widerspruch hervor. So wurde in Internetforen das Outing des NS-Kaders in holocaustrelativierender Weise mit der Denunziation von JüdInnen während des Nationalsozialismus verglichen. [3]
Und tatsächlich birgt diese Methode erfahrungsgemäß Probleme. Diese sind jedoch weniger im moralischen als vielmehr im politisch-strategischen Bereich zu suchen. Denn im gleichen Maße, in dem man KommilitonInnen über die Aktivitäten des Neonazis informiert, macht man ihn auch erkennbar und ansprechbar für diejenigen, die extrem rechten Ideologien aufgeschlossen gegenüber stehen. Auch eine Art Solidarisierungseffekt kann entstehen, eventuell verstärkt durch die Selbststilisierung des Neonazis als Märtyrer.
Die Mainzer antifaschistischen Studierenden haben diese Risiken in Kauf genommen. Sie sagen, dass die Handlungsmöglichkeiten angesichts der Bedrohung, die von rechter Gewalt ausgehe, beschränkt seien. Darüber hinaus trete Matthes sehr gediegen auf, diese Außendarstellung müsse verhindert werden. Einer der Beteiligten: »Wir haben ihm die Möglichkeit genommen, sich bei unbedarften KommilitonInnen als harmlos darzustellen und sich bei diesen Leuten ein Rekrutierungsfeld zu erarbeiten. Außerdem glaube ich, dass der größte Teil der Studierenden das Outing richtig aufgefasst hat und die richtigen Schlüsse daraus zieht.«
Weitere Möglichkeiten des antifaschistischen Engagements sind davon abhängig, wie sehr man bereit ist, sich öffentlich – und das heißt auch gegenüber dem Neonazi – als NazigegnerIn zu profilieren. So gab es an der Uni Mainz eine spontane Demonstration durch mehrere Uni-Gebäude. Die offene Diskussion mit KommilitonInnen und Lehrenden über die Anwesenheit eines Neonazis an der Uni und die Forderung nach der Verlegung von Seminaren können ebenso sinnvolle Aktionsformen sein, wie der sicher leichter durchzusetzende Ausschluss des Nazis von informellen studentischen Aktivitäten wie z.B. Lerngruppen.
Die Exmatrikulationsdebatte
Tatsächlich markierten die Outings in Mainz den Beginn einer intensiven und durchaus produktiven Debatte an der Uni und darüber hinaus. Die Debatte nahm an Fahrt auf, nachdem Matthes im Januar 2008 einen Kommilitonen, den er zuvor als Antifaschisten identifiziert hatte, beleidigt, bespuckt und zusammengeschlagen hatte. Womit noch einmal deutlich wird, dass Neonazis durchaus auch eine körperliche Gefahr darstellen für Studierende, die sich antifaschistisch engagieren oder auf eine andere Weise nicht in das extrem rechte Weltbild passen. Ihr Ziel ist es, über gewaltsame Einschüchterung eine offene und demokratische Debatte zu unterdrücken.
Die Mainzer Universitätsleitung war nach dem Übergriff im Januar 2008 dann endlich bereit, gegen Matthes vorzugehen – doch nur mit angezogener Handbremse. Dem Opfer schlug man vor, nicht alleine über den Campus zu gehen oder zur Sicherheit eine Trillerpfeife mit sich zu führen. Das Bündnis Mainzer Studierender gegen rechte Gewalt verteilte daraufhin Trillerpfeifen auf dem Campus, um die Absurdität dieses Vorschlags deutlich zu machen: Das Problem wird beim Opfer abgeladen, anstatt dass man sich in angemessener Weise um eine Sanktionierung des Täters bemüht. Auch die Sanktion, die der Exmatrikulationsausschuss der Uni schließlich gegen Matthes verhängte, ist bestenfalls halbherzig zu nennen: Matthes wurde für ein Semester vom Studium an der Uni Mainz ausgeschlossen. Danach darf er sein Studium jedoch uneingeschränkt fortsetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem handgreiflichen Vorfall – eine politische Positionierung gegen einen aktiven Neonazi-Kader wurde damit also nicht getroffen. Positiv an dem gesamten Vorfall ist die Tatsache, dass die Debatte darum das Problem von Neonazis an Hochschulen auch über Mainz hinaus zum Thema gemacht hat.
Kein Einzelfall
Ob die Universität aus dem ›Fall Matthes‹ Konsequenzen zieht oder ob das Problem als ›Einzelfall‹ zu den Akten gelegt und somit verharmlost wird, bleibt offen. Dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt, zeigen die Person Reinhard Hufnagel, die erwähnten TischnachbarInnen des Sascha Söder und weitere Beispiele von anderen Hochschulen wie der Fachhochschule Frankfurt am Main, der Uni Greifswald, der Uni Rostock, der Uni Magdeburg, der Forsthochschule Baden-Württemberg usw. Vor allem wenn, wie im Fall Sören B. an der FH Frankfurt im Jahr 2005, Neonazis zu PädagogInnen ausgebildet werden wollen, sind klare Grenzziehungen vonnöten (siehe Artikel Ein Fall für die Sozialarbeit?).
Darüber hinaus muss an den Hochschulen realisiert werden, dass rassistische, antisemitische und nationalistische Ideologieelemente nicht nur bei Neonazis zu finden sind, sondern weit bis in die Kreise ganz normaler Studierender reichen. Auch gegen anti-emanzipatorische Entwicklungen, die sich nicht eindeutig extrem rechts darstellen, muss an Hochschulen vorgegangen werden – auch, aber nicht nur, um den Neonazis den Boden für ihre Politik zu entziehen.
Dieser Artikel erschien im Dezember 2009 in der Publikation ›Dunkelfeld. Recherchen in extrem rechten Lebenswelten rund um Rhein-Main‹, [Hrsg.] argumente. netzwerk antirassistischer bildung e.V., Bildungswerk Anna Seghers e.V. aus Wiesbaden, Antifaschistisches Infobüro Rhein-Main. Berlin, 2009
Fußnoten
1 | Die BDVG wurde 1999 als Bildungswerk Deutsche Volksgemeinschaft gegründet, 2001 in Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft umbenannt. Sie vertrat einen strikten nationalsozialistischen Kurs, eng angelehnt an das 25-Punkte-Programm der NSDAP, und bot einen bewussten Gegenpol zu den als ›modern‹ kritisierten Strömungen in der extremen Rechten. Die Arbeit der BDVG bestand im Wesentlichen in der Durchführung von Schulungsveranstaltungen zur Herausbildung eines Kaderpersonals. Die BDVG wurde 2004 aufgelöst, ihre Mitglieder wechselten überwiegend zur NPD.
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3 | http://de.indymedia.org/2005/04/112481.shtml?c=on#c296140