Südhessische Provinzzustände. Zwischen Bahnhofsvorplatz, Naziaufmarsch und Freiwilliger Feuerwehr.

Ende 2008 erschien in der LOTTA #33 ein Artikel über die Situation in Südhessen. Seither hat sich die Szene grundlegend verändert – wenn auch einige organisatorische wie personelle Kontinuitäten bestehen. Insbesondere die Auflösung der Kameradschaft Bergstraße (KSB) leitete einen tiefgreifenden Umbruch ein, da seitdem eine stabile und überregional anerkannte Struktur fehlt.

KSB und Aktionsbüro

Das Aktionsbüro Rhein-Neckar (ABRN) wurde im Jahr 2003 unter maßgeblicher Beteiligung der KSB als Plattform von Kameradschaften in Südhessen gegründet. 2006 löste sich die KSB überraschend auf. Vermutlich waren die Gründe interne Streitigkeiten und die Angst vor einem Verbot, denn zu dieser Zeit lief ein Verfahren wegen Körperverletzung zu Lasten eines Aussteigers. Zudem wurde kurz vorher das interne Webforum des ABRN gehackt, wodurch ein großer Teil der Strukturen offengelegt wurde. Mit der KSB wurde eine jahrelang aufgebaute Hegemonie rechter Gruppierungen aufgelöst.

Diese Veränderung spiegelte sich auch im ABRN wider, das sich nun nicht mehr als Gruppenbündnis verstand, sondern als Zusammenhang, dessen Projekte selbstständig von „den Projektverantwortlichen“ geleitet werden. Viele ehemals aktive Neonazis aus ABRN-Kameradschaften haben mittlerweile einen „Rückzug ins Private“ vollzogen. Man findet sie auf Dorffesten, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder im „Kerweverein“, wo sie sich teilweise als engagierte Bürger_innen inszenieren. Auch nach der Auflösung der KSB blieben nur wenige Personen offen aktiv. Der Schwerpunkt rechter Aktivitäten an der Bergstraße verlagerte sich nach Heppenheim, wo beispielsweise mehrmals antifaschistische Aktivist_innen gezielt überfallen wurden. Nachdem im Sommer 2008 zwei Aktivisten (darunter der mittlerweile bei der NPD aktive Stefan Jährling) beim Kleben von Aufklebern erwischt wurden, tauchte rechte Propaganda allerdings nur noch sporadisch auf, auch öffentliche Aktionen gab es kaum noch.

Neugründungen

2008 entstand die Kameradschaft Darmstadt (KSD), deren Aktivist_innen zum größten Teil von der nördlichen Bergstraße und aus dem Darmstädter Umland stammten. Die Gruppe war etwa ein Jahr aktiv, trat jedoch nach einer Spontandemonstration 2009, bei der fast alle Teilnehmer_innen festgenommen wurden, und diversen Anzeigen (unter anderem wegen Volksverhetzung) kaum mehr in Erscheinung. Der Versuch, sich in Darmstadt zu etablieren, scheiterte an antifaschistischer Intervention und staatlicher Repression.

Nazi-Zusammenhänge und -Aktivitäten werden mittlerweile im Wesentlichen von einer neuen Generation Neonazis getragen. Diese profitieren aber von den Erfahrungen und Kontakten der Älteren.

2010 wurden in Heppenheim mehrmals die Schaufenster von Geschäften migrantischer Besitzer eingeworfen. In der Nacht auf den 28. Dezember wurden beispielsweise drei Imbisse und ein Lebensmittelgeschäft entglast, die Täter blieben unerkannt. Über den Hintergrund kann nur spekuliert werden, die Umstände sprechen jedoch für einen rassistischen oder neonazistischen Hintergrund.

Anfang 2010 tauchte im südhessischen Ried erstmals eine Gruppierung namens Nationale Sozialisten Ried (NSR) auf. In Biblis, bekannt als Standort des ältesten Atomkraftwerks in Deutschland, befindet sich die „Homezone“ der Gruppe. Eine der ersten öffentlichen Aktionen war das Zeigen einer Reichskriegsflagge auf einer Anti-AKW-Großdemonstration am 24. April 2010.

Die Gruppe gibt sich den äußeren Anstrich so genannter Autonomer Nationalisten und arbeitet eng mit den Nationalen Sozialisten Rhein-Main (NSRM) zusammen, deren Schwerpunkt sich im Frankfurter Umland befindet (siehe Lotta #45, S. 28). Bei Aufmärschen und im Internet präsentieren sie sich als organisatorische Einheit Freies Netz Hessen (FN Hessen).

Die zentrale Figur der NSR ist Florian Weißbarth, der bei der Kameradschaft Worms (KSW) aktiv war, bevor er die NSR aufbaute. 2011 griff Weißbarth in Frankfurt einen Passanten mit Quarzsandhandschuhen an und verletzte ihn schwer. Daraufhin erhielt der bereits Vorbestrafte für mehrere Monate eine Fußfessel.

Bensheimer Zustände

2011 breitete sich in Bensheim, insbesondere am Bahnhofsvorplatz, eine Clique aus, deren Mitglieder zwar vor allem dem kollektiven Alkoholkonsum zugetan waren, die aber offensichtlich rechte Positionen vertraten. Einzelne aus diesem Umfeld waren auch schon vorher im Dunstkreis der KSB aufgefallen.

Von dieser Gruppe wurden Menschen mit alternativem oder migrantischem Aussehen regelmäßig belästigt und bedroht. Im Laufe des Sommers wandelte sich die Clique zu einem explizit neonazistischen Politzusammenhang mit dem Namen Nationaler Widerstand Bergstraße (NWB). Personen aus diesem Umfeld liefen am 18. Februar 2012 bei einer Ersatzveranstaltung für den Trauermarsch in Dresden in Worms im „Block“ des FN Hessen, suchten also offenbar Anschluss an diese Struktur.

Dass die neue Gruppe sich als Nationaler Widerstand Bergstraße formierte, also unter dem Gruppennamen, unter dem die KSB 2000/ 2001 von René Rodriguez Teufer gegründet worden war, kann als Versuch gedeutet werden, an alte Strukturen anzuknüpfen und eine „historische“ Kontinuität zu konstruieren.

Etwa zeitgleich formierte sich etwas weiter östlich eine Gruppierung neu, die vorher als Nationale Sozialisten Odenwald ein Schattendasein als lokaler Kontakt auf der Website des ABRN geführt hatte: die Freien Nationalisten Odenwald (FNODW), die vor allem im südlichen Odenwald durch exzessives Verkleben von Aufklebern und rechte Schmierereien auffallen. Unter anderem versuchte die Gruppe im März 2011 zu provozieren, indem sie zur Teilnahme an einer Anti-Pelz-Demo der Tierrechtsinitiative Rhein-Main in Frankfurt aufrief.

Am 6. Oktober 2011 wurden vier alternativ aussehende Jugendliche in der Bensheimer Innenstadt von einer größeren Gruppe Nazis angegriffen. Der geplante Angriff von mehreren Seiten mit Pfefferspray zwang die Angegriffenen, in das nahegelegene Bachbett zu flüchten. Die meisten an dem Übergriff beteiligten und später festgenommenen Personen bekannten sich als Mitglieder des NWB.

Bei der Gerichtsverhandlung am 5. April 2012 erhielten die insgesamt acht Angeklagten im Alter von 16 bis 24 Jahren Verwarnungen beziehungsweise Bewährungsstrafen wegen gemeinschaftlicher, besonders schwerer Körperverletzung beziehungsweise Beihilfe dazu.

Einige erklärten die Auflösung der Gruppierung. Allerdings besteht großer Zweifel, ob dies nicht nur angesichts der drohenden Verurteilungen behauptet wurde. Interessanterweise war bei der Gerichtsverhandlung ein Prozessbeobachter aus Strukturen der KSD anwesend, was dafür spricht, dass die Verurteilten weiterhin Teil rechter Strukturen sind. Jedoch gab esseither keine Aktionen des NWB, der Weblog der Gruppe wurde schon vor dem Verfahren gelöscht.

Rechte Wählergemeinschaften und »Republikaner«

Auch parteigebundene Rechte sind in der Region aktiv. In Biblis erreichte die rechtspopulistische Freie Liste Biblis bei den Kommunalwahlen 2011 stattliche 22,7 Prozent.

Die Partei „Die Republikaner“ verfügt über Kreisverbände an der Bergstraße und im Odenwald. Im März 2011 versuchten die Bergsträßer „Republikaner“, in den Kreistag einzuziehen. Zur Heppenheimer Stadtverordnetenversammlung kandidierte außerdem eine Wählergemeinschaft mit dem Namen „Die Starkenbürger“, auf deren KandidatInnenliste gleich mehrere REP-Kreistagskandidaten zu finden waren. „Die Starkenbürger“ waren subkulturell geprägte junge Rechte, die teilweise schon im Umfeld der KSB aufgefallen und nach deren Auflösung in einem rechten Rockerclub untergekommen waren. Letztendlich erzielten die „Starkenbürger“ nur 1,2 Prozent der Stimmen, die REP kamen auf Kreisebene immerhin auf 2,3 Prozent und lagen damit über dem Ergebnis der Linkspartei.

Rechte Lebenswelten …

Obwohl es in Südhessen immer wieder aktive rechte Gruppierungen gibt, zerfallen die meisten relativ schnell. Die wenigen Zusammenhänge, die über längeren Zeitraum bestehen, bleiben bei einer konstanten Größe und einem überschaubaren Aktionsradius. Zwischen diesen Gruppen dominiert meist Misstrauen und Revierdenken, was eine wirkliche Zusammenarbeit und flächendeckende Organisierung behindert.

Darüber hinaus gibt es aber ein großes Umfeld an rechten Cliquen, die Publikum und Rekrutierungsfeld bilden für die organisierte Neonazi-Szene. Zentrales Problem bleiben die rechten Lebenswelten, die den Ausgangspunkt der Neonazi-Szene bilden. Und diese gibt es in den ländlichen Teilen Südhessens leider zuhauf: Auf dem Dorffest, in der Dorfkneipe oder bei der Freiwilligen Feuerwehr können Neonazis ihre Einstellung offen ausleben.

Von Mareike Zuckerberg

Erschienen in: Lotta – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen,  #48 | Sommer 2012

Artikel als pdf: Südhessische Provinzzustände. Zwischen Bahnhofsvorplatz, Naziaufmarsch und Freiwilliger Feuerwehr.